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Hans Fehr | Nationalrat von 1995-2015



Rainer Maria Rilkes "Herbsttag": "Unbegrenztes Gottvertrauen"

Von Hans Fehr, Nationalrat von 1995-2015, in dieser Eigenschaft Mitglied der Staatspolitischen sowie der Sicherheitspolitischen Kommission

Meine Beiträge 2016-2017

September 2017

Der "Herbsttag" von Rainer Maria Rilke ist meines Erachtens das schönste Gedicht deutscher Sprache. Sowohl sprachlich als auch inhaltlich meisterhaft, sendet es uns eine klare und zeitlose Botschaft: Es zeugt, trotz dem "grundsätzlichen" Atheismus Rilkes, von einem unbegrenzten Gottvertrauen.

Zu Rainer Maria Rilke habe ich eine besondere Beziehung. Denn der schon zu Lebzeiten berühmte Dichter, 1875 in Prag geboren und 1926 in Montreux gestorben, hat im Winter 1920/21 im Schloss Berg am Irchel, meinem Heimatdorf im Zürcher Weinland, gelebt.

Über das Gedicht "Herbsttag" habe ich den Dichter genauer kennengerlernt. Ich hatte in der Sekundarschule in einem Aufsatz geschrieben, das Gedicht stamme vom "tschechischen Dichter Rainer Maria Rilke". Mein damaliger Lehrer, Dr. Oskar Rietmann, ein gebildeter Mann, stellte meinen Fehler sogleich richtig mit der Bezeichnung "altösterreichischer" Dichter. Denn bekanntlich gehörten Böhmen und Mähren damals zur Donaumonarchie, und die Tschechoslowakei gab es erst seit 1920. Seither hat mich Rainer Maria Rilke nicht mehr losgelassen.

Herkunft und Werk

Rilke hat ein eindrückliches Werk hinterlassen. Seine Gedichte, seine Erzählungen (u.a. Geschichten vom Lieben Gott. Der Kardinal. Die Flucht. Die Näherin. Die Turnstunde. Der Brief des jungen Arbeiters), und vor allem seine Lyrik (Das Buch der Bilder. Das Stundenbuch. Duineser Elegien. Sonette an Orpheus), aber auch seine Sachtexte (zum Beispiel über den Bildhauer Rodin) sind einfühlsam und tiefgründig; sie haben zum Teil aber einen Hang ins Mystische und sind nicht immer leicht verständlich. Den "Herbsttag" hingegen verstehen alle. Die bildliche, eindringliche, meisterhafte Sprache, die herrliche Melodie und die Botschaft des Gedichtes ziehen uns in seinen Bann:



Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; gib ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süsse in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.





Wie ein Gebet

"Herbsttag" erinnert in seiner Eindringlichkeit und Feierlichkeit an ein Gebet. Aus den ebenso einfachen wie genialen Versen spricht ein unbegrenztes Gottvertrauen. Gott kann alles: Der Allmächtige beherrscht das Wetter, die Natur, die Naturgewalten, er sorgt für eine gute Ernte und "jagt die letzte Süsse in den schweren Wein". Gott hat alle Macht, und er wird alles zum Guten wenden. Vertraue ihm. Das ist meines Erachtens die Kernbotschaft des Gedichts.

In der dritten Strophe kommt eine Art Endzeitstimmung, gepaart mit Hoffnung, zum Tragen. Der goldene Herbst ist vorbei, der Winter steht vor der Tür und nimmt die Menschen in Beschlag. Man schmiedet in der "toten" Jahreszeit keine grossen Pläne mehr, packt keine grossen Dinge mehr an. Es droht die Einsamkeit. Rilke wandert unruhig "in den Alleen hin und her", er liest, schreibt lange Briefe. Rilke, der keine eigentliche Heimat hat, sehnt sich nach dem Frühling. Wenn die Blätter treiben, wenn die Natur erwacht, kann er der Einsamkeit entrinnen.

Der "Herbsttag" würde gut zum Aufenthalt Rilkes in Berg am Irchel passen. Wegen der Maul- und Klauenseuche sass er praktisch "im goldenen Käfig" des Schlosses, und sein Rayon war auf die Allee begrenzt. Das Gedicht entstand jedoch bereits 1902 in Paris - und die damalige Gemütslage Rilkes lässt sich wohl aus dem folgenden Umstand erklären: Im Herbst 1902 hatte Rilke seine Frau, die Bildhauerin Clara Westhoff, in Berlin zurückgelassen und war nach Paris gezogen, wo er - um seinen Lebensunterhalt verdienen zu können - an einer Monographie über den berühmten Bildhauer Auguste Rodin arbeitete. Diese eher schwierigen Umstände haben wohl die dritte Strophe des "Herbsttag" beeinflusst.

Sozialkritik?

Eine politische Botschaft ins Gedicht hinein interpretieren zu wollen, wäre meines Erachtens fragwürdig. Hingegen könnte ein Kleingeist den Dichter selbst "sozialkritisch" hinterfragen: Die einfachen Leute, zum Beispiel in Berg am Irchel, hatten kein Gastrecht im Schloss und konnten den Winter nicht mit Wandern in der Allee, mit Lesen und Briefeschreiben verbringen. Sie hatten mit der Bewältigung ihres täglichen Lebens und mit der harten Arbeit in Stall, Feld und Wald genug zu tun.

Aber ich meine, dass begabte und begnadete Künstler und Kulturschaffende aller Sparten, insbesondere auch literarische Talente, oder gar Genies vom Format eines Rilke, unser Leben und unseren Geist in einer Weise prägen und bereichern, dass sie - mit all ihren möglichen Widersprüchen - unverzichtbar sind. Unverzichtbar sind aber auch die "normalen Leute von Berg am Irchel", die täglich ihrer Arbeit nachgehen und dafür sorgen, dass unser Zusammenleben und unser Staatswesen funktioniert.