Hans Fehr, Salomon Landolt-Weg 34, 8193 Eglisau



Hans Fehr | Nationalrat von 1995-2015



Das Schweigen des Papstes

Von Hans Fehr, Nationalrat von 1995-2015, in dieser Eigenschaft Mitglied der Staatspolitischen sowie der Sicherheitspolitischen Kommission

Meine Beiträge im Jahr 2016

BaZ vom 9.5.2016

Kürzlich hat Papst Franziskus ein "Zeichen gesetzt" und 12 syrische Asylbewerber von der griechischen Insel Lesbos nach Rom mitgenommen. Zwei gegensätzliche Reaktionen folgten auf dem Fuss: "Er hat die EU beschämt und etwas gemacht statt bloss geredet." Zweite Reaktion: "Der Papst nimmt zwölf mit und lässt 3988 auf Lesbos zurück." Papst Franziskus verteidigte sich mit einem Ausspruch von Mutter Teresa: " Es ist nur ein Wassertropfen ins Meer, aber das Meer wird nun nicht mehr dasselbe sein."

Apokalyptischer Szenenwechsel: Am 8./9. Mai 1945, vor 71 Jahren, ging mit der bedingungslosen Kapitulation Hitlerdeutschlands der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende. Eine Schreckenszeit, die mit dem grössten Massenmord der Geschichte an sechs Millionen Juden unauslöschlich verbunden bleibt. Selbstverständlich lässt sich jene Situation, "als die Lichter ausgingen in Europa" (Stefan Zweig) nicht mit der heutigen vergleichen. Umso mehr muss die Frage gestellt werden: Hätte Papst Pius XII (im Amt von 1939-1958) kraft seiner Autorität mehr zum Schutz und zur Rettung der Juden tun können? Oder härter formuliert: Warum hat er nicht mehr für die Juden getan? Ein "Wassertropfen" hat damals in Anbetracht der Apokalypse definitiv nicht genügt.

Eine verrückte Idee?

Obwohl bis heute nicht alle vatikanischen Archive aus jener Zeit geöffnet sind, ist eines klar: Seit 1942 war Pius XII über den Berner Nuntius, über italienische Militärgeistliche und über andere Quellen über die Naziverbrechen und den Holocaust im Bild. Auch seine deutsche Vertraute, Schwester Pasqualina, bestürmte ihn wiederholt, seine Stimme gegen die Massenmorde lautstark zu erheben.

Vielleicht eine verrückte Idee: Warum ist der Papst als Oberhaupt der katholischen Kirche nicht nach Berlin oder gar nach Auschwitz gereist, um "vor Ort" und vor aller Weltöffentlichkeit gegen den Holocaust zu protestieren? Millionen von Deutschen, vor allem in Baden-Württemberg, Bayern und in andern Gebieten, ebenso das "angeschlossene" Österreich, und viele von Hitlers Getreuen, waren katholisch. Eine mutige päpstliche Intervention hätte zweifellos eine grosse Wirkung gehabt. Allerdings wäre Hitler vielleicht so weit gegangen, den Vatikan besetzen zu lassen und den Papst gefangen zu nehmen. Dann hätte aber die ganze christliche/katholische Welt aufgeschrien. Natürlich sind das Spekulationen. Aber die Wirkung einer solchen Massnahme - nur schon ihre Ankündigung - wäre wohl enorm gewesen. Aber Pius XII hat es unterlassen, öffentlich und eindringlich gegen den millionenfachen Mord an den Juden zu protestieren.

Das ist umso erstaunlicher, als Pius XII ein aussergewöhnlicher Papst mit grossem Einfluss war. Eugenio Maria Giuseppe Giovanni Pacelli, wie er mit bürgerlichem Namen hiess, hatte eine besondere Beziehung zu Deutschland. 1917 wurde er apostolischer Nuntius (ständiger Vertreter des Papstes) in München. Er warb für eine päpstliche Friedensinitiative zur Beendigung des Ersten Weltkriegs, der aber kein Erfolg beschieden war. Fortan bemühte er sich um eine strikte Neutralität der Kirche in politischen Fragen. Im Frühjahr 1919 wurde die Nuntiatur von Anhängern der kommunistischen Räterepublik besetzt und Pacelli wurde mit der Waffe bedroht. Diese gefährliche Situation mag mit ein Grund dafür gewesen zu sein, dass er später die Gefahr des Kommunismus/Bolschewismus offenbar höher gewichtete als den Nationalsozialismus und in Hitler quasi das "kleinere Übel" gegenüber Stalin sah. 1930 wurde er zum Kardinalstaatssekretär berufen und war damit als "Aussenminister des Vatikans" der wichtigste aussenpolitische Berater und Mitarbeiter von Pius XI. 1933 unterzeichnete er das unselige Reichskonkordat mit der nationalsozialistischen Regierung. Dieses brachte zwar eine gewisse Rechtssicherheit für die Kirche, für das Naziregime aber auch den ersten wichtigen aussenpolitischen Erfolg.

Kirchliche Würdenträger informierten Pacelli nach Hitlers Machtergreifung laufend über die zunehmende Entrechtung und Verfolgung der Juden in Deutschland und riefen ihn zum Handeln auf; er beantwortete aber praktisch keine der Interventionen. Auch sind von ihm als Kardinalstaatssekretär keine öffentlichen Stellungnahmen und Proteste gegen die Nürnberger Rassengesetze (1935) und zu den Judenpogromen von 1938 (Reichskristallnacht) bekannt.

Was hat Pius XII konkret getan?

Papst Pius XII hat sich mit verschiedenen diplomatischen Interventionen für die "Verfolgten" und die "Unglücklichen" eingesetzt. Aber das Wort "Jude" nahm er nicht öffentlich in den Mund: In seiner Weihnachtsansprache vom 24. Dezember 1942 bekundete Pius XII die Sorge um die "Hunderttausenden, die ohne eigenes Verschulden, bisweilen nur aufgrund ihrer Nationalität oder Rasse dem Tod oder fortschreitender Vernichtung preisgegeben sind."

Am 2. Juni 1943 erwähnte er gegenüber den Kardinälen die "Bitten derjenigen, die sich mit angsterfüllten Herzen flehend an Uns wenden. Es sind dies diejenigen, die wegen ihre Nationalität oder Rasse von grösstem Unheil und schweren Schmerzen gequält werden und die auch ohne Schuld bisweilen Einschränkungen unterworfen sind, die ihre Ausrottung bedeuten."

Die Nazis verurteilten die (in ihrer Wortwahl sehr zurückhaltende) Weihnachtsansprache scharf. Aussenminister Joachim von Ribbentrop befahl dem deutschen Gesandten beim Vatikan, dem Papst mit Vergeltung zu drohen. Der Papst habe ihn, so der Gesandte, ruhig angehört und dann gesagt, ihn kümmere nicht, was ihm zustossen werde. Doch käme es zu einem Konflikt zwischen der Kirche und dem deutschen Staat, so werde der Staat den Kürzeren ziehen.

Meine Frage: Wenn der Papst so mutig reagiert hat, warum hat er nicht auch die Judenverfolgung und den Holocaust mutig und in aller Klarheit verurteilt? Am 21. Juni 1943 entsandte Pius XII seinen Nuntius in Berlin, Cesare Orsenigo, zu Hitler: "Ich wurde (in Berchtesgaden) von Hitler empfangen. Aber sobald ich das Thema Juden angeschnitten hatte, drehte sich Hitler ab, ging ans Fenster und trommelte gegen die Scheiben. Ich tat es trotzdem. Da drehte sich Hitler plötzlich um und schleuderte wütend ein Glas Wasser (…) auf den Boden." Damit war die Audienz beendet.

Nach der Machtübernahme der Nazis in Italien befahl Hitler im Herbst 1943 die Deportation der Juden aus Rom. Kurz darauf bestimmte Pius XII ein allgemeines Kirchasyl für alle Juden in Rom und im besetzten Italien. Bis zur Befreiung Roms am 4. Juni 1944 konnten sich rund 4500 Juden im Vatikan und in Klöstern verstecken. Hunderttausende aus den besetzten Gebieten wurden jedoch weiterhin in die Vernichtungslager deportiert. Laut "Kathedia" ("freie katholische Enzyklopädie") hat Pius XII "sehr viel" für die Juden getan. Meines Erachtens hat jedoch die grosse, mutige Tat des Papstes gefehlt.

Zwiespältiges Bild

Insgesamt ergibt sich ein zwiespältiges Bild von Pius XII. In der Überzeugung, öffentliche Proteste würden die Nazis provozieren, und sie würden dann noch schärfere Massnahmen ergreifen, verhielt sich der Papst zurückhaltend. Allerdings ist zu fragen: Welche "noch schärferen Massnahmen" befürchtete Pius XII in Anbetracht des grössten Massenmords der Geschichte? Die gigantische Katastrophe des Holocaust hätte ja nicht einmal der Teufel persönlich mit "noch schärferen Massnahmen" übertreffen können. Und zweitens: Was wäre geschehen, wenn Pius XII mit seiner Autorität als Oberhaupt der katholischen Kirche öffentlich und in aller Schärfe gegen den Holocaust protestiert hätte? Was wäre geschehen, wenn er seinen Protest nach Berlin und gar nach Auschwitz getragen hätte?

Wir wissen es nicht. Aber Pius XII als Stellvertreter Christi auf Erden hätte die grosse, mutige Tat wagen müssen. Christus hätte sie gewagt.