Hans Fehr, Salomon Landolt-Weg 34, 8193 Eglisau
Hans Fehr | Nationalrat von 1995-2015
Von Hans Fehr, Nationalrat von 1995-2015, in dieser Eigenschaft Mitglied der Staatspolitischen sowie der Sicherheitspolitischen Kommission, Oberstleutnant
Meine BeiträgeGastbeitrag BaZ, 26.9.2018
Als "kranken Mann am Bosporus" bezeichnete man im 19. Jahrhundert bekanntlich
das Osmanische Reich, das von allen Seiten bedrängt wurde und im Niedergang
begriffen war. Heute kann man diese Bezeichnung durchaus auf die Türkei
unter dem "Sultan" Erdogan übertragen.
Nach einem anfänglich bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufstieg der Türkei
unter Staatschef Recep Tayyip Erdogan zeichnet sich seit dem Frühjahr 2018
eine dramatische Verschlechterung ab. Seit seiner Wiederwahl und der
Verfassungsänderung verfügt der türkische Präsident praktisch über
diktatorische Vollmachten. Damit kann er alle vermeintlichen und
tatsächlichen Regimegegner aus dem Wege räumen. Die Türkei wandelt sich
mehr und mehr zu einer islamischen Diktatur, es herrschen Rechtsunsicherheit
und Willkür. Die Menschenrechte werden mit Füssen getreten, und Zehntausende
wurden als "Staatsfeinde" verhaftet.
Erdogan verrät damit das Erbe von Kemal Pascha Atatürk, der 1923
mit der Schaffung der modernen laizistischen Türkei ein enormes Werk
vollbracht hat. Auch die Schweiz hat damals einen wichtigen Beitrag
geleistet: 1926 hat Atatürk das Schweizer Privatrecht mit dessen
Quellen Zivilgesetzbuch und Obligationenrecht übernommen.
Wirtschaftlicher Höhenflug gestoppt
Noch bis ins erste Quartal 2018 verzeichnete die Türkei ein
beachtliches Wirtschaftswachstum. Aber der wirtschaftliche Höhenflug
scheint nun wegen dem politischen Kurswechsel, der vor allem von
den USA nicht goutiert wird, ein abruptes Ende zu finden. Von den
Amerikanern scharf kritisiert wird auch die Verbrüderung der
Türkei mit Russland im Syrien-Krieg gegen die USA. Zudem stösst
auf Unverständnis, dass die Türkei als NATO-Land ein russisches
Raketenabwehrsystem gekauft hat. Dazu kommt der schon seit Jahren
schwelende Bürgerkrieg gegen die kurdische Bevölkerung im Osten
des Landes. 2017 ist die türkische Armee sogar nach Syrien
vorgestossen, um dort die angeblich mit den türkischen Kurden
verbündeten syrischen Kurden - für Erdogan allesamt "Terroristen"
- zu bekämpfen. Diese wurden von den Amerikanern beim Kampf
gegen den IS in Syrien unterstützt.
Türkische Lira um 40 Prozent abgesackt
Erdogan bekommt nun die Quittung für seine Politik auch
von den Finanzmärkten. Im Jahre 2018 ist die türkische Lira
gegenüber dem Dollar um rund 40 Prozent abgesackt. Sie ist d
amit eine der schwächsten Währungen weltweit geworden.
Die Teuerung ist in kurzer Zeit auf 17,9 Prozent (August 2018)
angestiegen. Auch die kürzliche Erhöhung des Leitzinses auf
24 Prozent (gemäss "NZZ" vom 14.9.2018 eine "positive
Überraschung aus Ankara"), die angeblich gegen den Willen
Erdogans erfolgt ist, wird noch keine Stabilisierung der Preise
bringen und eine Rezession wohl nicht abwenden können.
Hohe Defizite im Aussenhandel
Die Schwachstelle der türkischen Wirtschaft sind insbesondere
die hohen Defizite im Aussenhandel. Diese summierten sich
während Erdogans Amtszeit auf 548 Milliarden Dollar. Die Türkei
verfügt gemäss Weltbank über Auslandschulden von 460 Milliarden,
was rund 53 Prozent der volkswirtschaftlichen Leistung entspricht.
Unternehmen, die solche Kredite aufgenommen haben, werden nun
wegen der Lira-Abwertung mit massiv höheren Zinsen und Schulden
belastet. Es könnte deshalb zu Insolvenzen (Zahlungsunfähigkeit)
kommen.
Auslandabhängigkeit
Die Türkei ist zudem stark von ausländischem Öl und Gas abhängig.
Ein grosser Energielieferant der Türkei ist der Iran, von wo
täglich 147'000 Fass Öl importiert werden. Im kommenden November
wollen die USA auch die Erdölexporte des Iran unterbinden, um
dort einen politischen Kurswechsel zu erzwingen. Die USA haben
all jenen Ländern und Unternehmen Sanktionen angedroht, die
dannzumal weiterhin mit dem Iran Geschäfte treiben wie
beispielsweise die Türkei. Rund zwei Drittel des türkischen
Ertragsbilanzdefizits sind auf die Energieimporte zurückzuführen.
Erdogan versucht darum, sich den wichtigsten Energieversorgern
Russland und Iran anzunähern.
Die Zeit läuft jedoch gegen die Türkei - sie steht mit dem Rücken zur Wand.
Solange die Verbrüderung Erdogans mit den Erzfeinden der USA anhält, wird
der wirtschaftliche Druck der USA auf die Türkei zunehmen. Ohne Frieden
mit den USA ist kein Ende der Wirtschaftsmisere abzusehen, denn als Gegner
sind die USA für die Türkei definitiv eine Nummer zu gross. Mit der
Weltwährung Dollar und ihrem mächtigen Bankensystem können sie die Türkei
jederzeit von den Weltmärkten verbannen - und den Türken könnten eine
Hyperinflation und eine hohe Arbeitslosigkeit drohen.
Politischer Kurswechsel?
Der "kranke Mann am Bosporus" kann wohl nur gesunden, wenn ein
umfassender politischer Kurswechsel stattfindet. Ein solcher
ist aber derzeit nicht in Sicht. Auch wird Erdogan eines Tages
einsehen müssen, dass es auf Dauer nicht möglich ist, einen
unabhängigen kurdischen Staat zu verhindern. Erdogan sollte
sich Staatsgründer Atatürk zum Vorbild nehmen.